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Ich fragte die gelbe Blume – 17 Fragen an das Leben

Ich fragte die gelbe Blume – 17 Fragen an das Leben

Ich fragte die Blume:
Woher kommt dein Gelb?
Die Blume sprach:
Vom Licht. Und von dem, was es nicht erreicht.

Ich fragte die Blume:
Kennst du den Tod?
Die Blume sprach:
Kennst du einen Ort, der ewig ist?

Ich fragte die Blume:
Wo bist du im Winter?
Die Blume sprach:
Dann werde ich zu Erde.

Ich fragte die Blume:
Kommst du ins Feuer?
Die Blume sprach:
Nur, wenn du es mitbringst.

Ich fragte die Blume:
Gehst du ins Paradies?
Die Blume sprach:
Das Paradies ist eine Stadt der Abwesenheit.

Ich fragte die Blume:
Hast du je einen heiligen Ort gesehen?
Die Blume sprach:
Ich stehe auf einem. Er ist überall.

Ich fragte die Blume:
Was ist die Rose für dich?
Die Blume sprach:
Der Schweiß eines Gerechten.

Ich fragte die Blume:
Kennst du den Menschen?
Die Blume sprach:
Einer unter tausend kennt sich selbst.

Ich fragte die Blume:
Kennst du die, die schweigen?
Die Blume sprach:
Sie sind selten. Und nie allein.

Ich fragte die Blume:
Kennst du den, der die Wahrheit trug?
Die Blume sprach:
Er ging, bevor jemand fragte.

Ich fragte die Blume:
Warum ist dein Hals geneigt?
Die Blume sprach:
Weil mein Herz sich der Wahrheit neigt.

Ich fragte die Blume:
Wer hat dir deinen Namen gegeben?
Die Blume sprach:
Was für eine seltsame Frage.

Ich fragte die Blume:
Hast du Vater und Mutter?
Die Blume sprach:
Mein Vater und meine Mutter sind die Erde.

Ich fragte die Blume:
Hast du Geschwister?
Die Blume sprach:
Meine Geschwister sind die Blätter.

Ich fragte die Blume:
Darf ich deinen Garten betreten?
Die Blume sprach:
Riech mich. Und geh.

Ich fragte die Blume:
Warum weinst du?
Die Blume sprach:
Weil ich keine Stimme habe.

Ich fragte die Blume:
Kennst du die, die gingen, ohne zu reden?
Die Blume sprach:
Ich blühe auf ihren Gräbern.

Ich sagte nichts mehr.
Die Blume schwieg.
Und wir standen da.
Einander gegenüber.
Im Wissen.

(inspiriert von anatolischer Mystik, neu erzählt)

Published inFragmente & Notizen