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Interview mit der Angst

🎙️ Geführt unter Ausschluss von Licht und Vernunft – live aus dem Studio.

Es ist seltsam ruhig im Raum.
Fast zu ruhig. Der Stuhl, den sie einnimmt, knarrt nicht einmal, als sie sich setzt. Ihre Augen – schwarz, unergründlich – fixieren mich, während sie spricht. Ihre Haltung ist entspannt, aber sie weiß, dass sie alles kontrolliert.

Die Angst ist da, neben mir, in meiner Nähe – aber nicht wirklich greifbar. Sie sitzt wie ein Schatten, der nicht in der Ecke bleibt, sondern sich langsam über alles legt.
Man könnte sagen, sie sei wie der Raum selbst – alles umhüllend und doch nicht direkt benennbar.

Wir sind nicht allein. Es gibt Zuhörer. Sie beobachten, sie hören zu – und hin und wieder unterbrechen sie das Gespräch, stellen Fragen, werfen ihre Zweifel in den Raum. Es ist klar: Die Angst weiß, dass auch sie hier ist. Sie wird beobachtet.

Ich beginne, weil ich es muss.

Ich: Warum sind Sie eigentlich hier?

Die Angst: Weil du mich gerufen hast.
Jeder ruft mich irgendwann. Du hast lange versucht, mich zu ignorieren.
Aber das hier – das ist dein Moment. Du wusstest, dass du mich brauchen würdest. Und jetzt…
Jetzt bin ich da.

Zuhörer (über das Telefon):
„Was wollen Sie eigentlich?“

Die Angst: (Lächelt, als ob sie die Frage schon kennt)
Ich will nichts.
Ich bin nur das, was ihr von mir wollt.
Und was ihr nie ganz loswerden könnt.

Ich: Sie sind die Angst. Aber was bedeutet das fĂĽr Sie?

Die Angst: Ich bin nichts, bis du mich spĂĽrst.
Ich bin der erste Gedanke, wenn du aufstehst.
Der letzte Gedanke, wenn du ins Bett gehst.
Ich bin die Frage, die du nie beantwortest.
Die Leere, die du fĂĽllst, ohne je zu wissen, was wirklich fehlt.

Zuhörer (über das Telefon): „Warum sind Sie so mächtig?“

Die Angst: Weil ich nichts brauche.
Keinen Beweis, keinen Anlass.
Ich bin da, solange ihr mich braucht.
Und wenn ihr mich nicht wollt, bin ich trotzdem da – leise, unsichtbar.
Ihr braucht mich, um euch zu fĂĽhlen, um zu handeln, um zu leben.

Ich: Und was passiert, wenn jemand versucht, gegen Sie anzukämpfen?

Die Angst: Kämpfen? Oh, sie haben versucht, gegen mich zu kämpfen.
Sie haben neue Ideen, neue Theorien, sie nennen es „Zivilisation“.
Aber die Wahrheit ist, sie sind alles nur Fluchtversuche.
Kampf bedeutet nur, dass sie wissen, dass ich da bin.
Wenn du mich bekämpfst, hast du schon verloren.
Denn du hast mir die Macht gegeben. Du hast zugelassen, dass ich in deine Welt komme, indem du mich irgendwann willkommen geheiĂźen hast.
Ich bin nicht der Feind. Du bist mein.

Zuhörer (über das Telefon): „Haben Sie nie Mitleid?“

Die Angst: Mitleid?
Ich bin nicht hier, um eure GefĂĽhle zu schonen.
Ich bin hier, um euch zu zeigen, was passiert, wenn ihr euch selbst anlĂĽgt.
Mitleid ist für die Schwachen. Und ich gebe euch keine Schwäche.

Ich: Aber Sie lösen Panik aus. Hass. Gewalt. Kontrolle.

Die Angst: Ich löse gar nichts aus. Ich bin.
Was ihr daraus macht, liegt bei euch.
Ich geb euch nur das Vibrieren unter der Haut. Den Druck im Bauch.
Die Feinde denkt ihr euch selbst dazu.

Zuhörer (über das Telefon): „Können Sie jemanden wirklich verändern?“

Die Angst: (mit einem fast unmerklichen Lächeln)
Oh, ich kann alles verändern – solange ihr euch selbst fürchtet.
Denn dann weiĂźt du, wer dein Feind ist. Und wer du selbst geworden bist.

Ich: Was passiert, wenn wir Sie nicht mehr brauchen? Wenn wir Sie ignorieren?

Die Angst (lacht laut, fast spöttisch):
Loswerden.
Was fĂĽr ein charmantes Wort.
Als wäre ich ein Hautausschlag. Oder eine toxische Beziehung.
Ihr denkt, ihr könnt mich wegatmen, wegtherapieren, wegdefinieren.
Dabei seid ihr längst meine Hauptdarsteller.
Ihr spielt mich täglich. In Politik. In Medien. In Gesprächen am Gartenzaun.
Ihr könnt ohne mich nicht einmal mehr scrollen.

Zuhörer (über das Telefon): „Was passiert, wenn wir Ihnen die Macht nehmen?“

Die Angst: (leicht genervt, aber mit einem fast mĂĽden Blick)
„Macht nehmen?“
Die Macht, die ihr mir gebt, ist der einzige Grund, warum ihr noch atmet.
Was glaubt ihr, was passiert, wenn ihr sie mir wirklich nehmen könntet?
Dann ist es still. Und das ist schlimmer als alles andere.

Ich: Haben Sie jemals Angst?

Die Angst (lächelt mit einem Lächeln, das kein Mensch je vergessen wird):
Ach, du hoffst, ich sage jetzt: vor euch?

Das wäre ein schöner Moment.
Kathartisch. RĂĽhrend. Vielleicht sogar aufbauend.

Aber nein.

Ich fĂĽrchte nichts.
Ich war da, bevor ihr laufen konntet.
Und ich werde noch da sein, wenn ihr längst vergessen habt, wie ihr mich genannt habt.

Ich habe keinen Tod. Nur neue Formen.

Ich: (mit einem scharfen Blick, fast ein bisschen sĂĽffisant)
Aber was, wenn wir uns gegen Sie wenden? Was, wenn wir wirklich anfangen, uns von Ihnen zu befreien? Was dann?

Die Angst (lehnt sich vor, die Stimme wird schärfer):
Das ist das größte Märchen von allen.
Ihr könnt mir nichts anhaben. Nichts!
Ihr seid nichts ohne mich!

Ich: (mit einem leicht ironischen Lächeln)
Gut, dann lassen Sie uns sehen, wie gut Sie ohne mich zurechtkommen.

Die Musik setzt ein.
Die ersten, verzerrten Töne von Motörhead – „Nightmare/The Dreamtime“ dröhnen durch den Raum, die Atmosphäre kippt. Der Sound explodiert förmlich, das Interview ist vorbei.
Ich verabschiede mich süffisant, drehe den Lautsprecher auf und lasse die Musik mit voller Lautstärke losbrechen, während im Hintergrund die Stimme der Angst laut und fluchend zu hören ist: „Das war’s für heute, meine Damen und Herren. Ich danke euch fürs Zuhören. Bis zum nächsten Mal.“

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